TSV Burggen - Abteilung Stockschützen 1991

1. Das Eisstockschießen

oder
Auch die Kälte macht Durst
von Herbert Rosendorfer

aus „Aechtes Münchner Olympiabuch“

Das Eisstockschiessen soll dadurch entstanden sein, dass sich Holzknechte dicke Scheiben von den Stämmen geschnitten und diese Scheiben in flachen Riesen (den vereisten Holztriften) um die Wette haben gleiten lassen. Diese Herkunft mag auch erklären, dass der Schnaps ein unerlässlicher Bestandteil des Eisstockschiessens ist. Ein fremdstämmiger Einwohner ausserbayrischer, insbesonders nördlicher Provenienz, kann schon deswegen kein zünftiger Eisstockschütze werden, weil er die Bezeichnung für die Eisstockmannschaft nicht aussprechen kann: Moarschaft. Dennoch, und obwohl findige Funktionäre sogar bayrisch-österreichische Weltmeisterschaften im Eisstockschiessen arrangierten (wo in Sportdress und ganz ohne Schnaps angetreten wird), ist das Eisstockschiessen im Gegensatz zu fast allen anderen Sportarten politisch gutartig.

Sport ist, wie man weiß, nicht nur ungesund und gefährlich, sondern auch völkertrennend und in hohem Grade geeignet, Nationalismus zu erzeugen. Nicht umsonst fördern und förderten faschistische und faschistoide Staatssysteme, von Nazi-Deutschland bis Rot-China, den Sport. Erst in jüngster Zeit ist ein Krieg in Mittelamerika wegen eines Fußballspiels ausgebrochen. Sportliche Niederlagen werden als nationale Schande empfunden. Das ginge noch: aber gegen den fremden Sieger richtet sich nationaler Hass. Im Sport erfolgreiche Nationen empfinden sich als Herrenmenschen, die Unterlegenen werden als minderwertig betrachtet. Bei keiner Gelegenheit spielen Fahnen und Nationalhymnen eine so große Rolle wie bei internationalen Sportveranstaltungen. Wilhelminische Flottenparaden waren ein konziliantes Nichts dagegen. Es ist allbekannt, dass der Teufel meist dort seine Hand im Spiele hat, wo dauernd von Gott geredet wird. So erkennt man auch die Brutstätten des Chauvinismus daran, dass dort so oft wie möglich von „Völkerverständigung“ die Rede ist. Genausowenig wie das aztekische Keulenspiel über seine Heimat Mexiko hinauszudringen vermochte, wurde – zu seinem Glück – das Eisstockschiessen über die Grenzen Bayerns und Österreichs hinausgetragen; mit dem schottischen Curling kann es nur ein Preuße verwechseln. Zwar sind dem Eisstockschiessen klimatische Grenzen gesetzt; Äthiopien etwa oder Sizilien könnten schwerlich Eisstock-Gebiete werden. Aber das allein würde seine bayrische Exklusivität nicht erklären. Man denke nur an Skifahren, dessen klimatisches Problem ähnlich gelagert ist. Was ist aus dieser ehemals zweckmäßigen und vielleicht sogar charmanten Fortbewegungsart norwegischer Landbriefträger alles geworden! Das Eisstockschiessen ist ganz einfach nicht geeignet, als „Wertmesser“ zwischen Staaten oder Völkern missbraucht zu werden. Nur „Eingeweihte“ verstehen es zu spielen.

Ein Gruppe von Männern steht auf dem Eis. Sie tragen Lodenmäntel oder kurze, ziemlich unförmige, offenbar wattierte Überröcke, Bundhosen und Trachtenhüte. Seltener ist einer darunter, der einen Anorak und Keilhosen anhat. Das Eis ist in sauber getrennte Bahnen eingeteilt, jeweils drei nebeneinander. Es ist saukalt. Die Männer verstecken ihre Hände in den quergestellten Taschen ihrer Mäntel und schauen gespannt in eine Richtung. Einer der Männer tut dann eine Hand aus der Tasche, wohlweislich lässt er die andere drin, wegen der Kälte. In der freien Hand hält er den Eisstock. Der Mann bückt sich. Das Kinn ist nach vorne gereckt, ein Bein abgestützt, der Blick fixiert das andere Ende der Bahn. Der Eisstock am Arm des Mannes pendelt und schwingt und wird dann lautlos, irgendwie fast sanft, aber doch voll versteckter Kraft entlassen und gleitet drehend über die Bahn. Sogleich richtet sich der Mann wieder auf, steckt die Hand wieder ein und folgt dem Stock. Sechs-, achtmal wiederholt sich dieser Vorgang. Ein Mann nach dem anderen geht hinüber, bis alle wieder drüben versammelt sind. Es ist natürlich immer noch eiskalt. Die Eisstöcke stehen vor den Füßen der Männer herum. Nun nehmen die Männer kleinere Gegenstände aus der Tasche. Die Gegenstände sind aus Glas und glitzern in der Wintersonne. Von den Gegenständen wird der Verschluß abgeschraubt. Die Männer werfen den Kopf ins Genick, die Gegenstände werden an den Mund geführt. Der Blick richtet sich nun gegen Himmel. Sie danken, heißt es, ihrem Schöpfer für jeden Schluck. Offenbar sind sie ein frommes Volk, die Eisstockschützen.

Die Bahn spiegelt. Das Spiel geht weiter. Mit einem ganz besonderen, trockenen Geräusch, einem unverwechselbaren Mittelding aus Klicken und Knall, stößt ein kräftiger „Läufer“ einen bockigen „Bremser“ von der „Taube“ weg. Ein kurzer Freudenschrei bei der glücklichen Moarschaft. Wieder werden jene blitzenden Gegenstände aus den Taschen genommen, und wieder erhebt sich der Blick zum Himmel, der, wie kann es anders sein, weiß-blau ist. Aber das ist die einzige Fahne bei dieser Sportveranstaltung, und gegen die ist ja wohl nichts einzuwenden.